Ehrfurcht vor dem Stein II - Eindrücke von der archäotechnischen Aktion mit Wulf Hein

Was, wenn es keine Messer gäbe, keine Scheren, keine Nadeln, keine Gabeln, keine Zahnbürsten, keine Streichhölzer und Feuerzeuge? Der Mensch würde sicher verhungern oder aber erfrieren. Nur mit den körpereigenen Werkzeugen, den kurzen Nägeln und stumpfen Zähnen ausgerüstet, den nackten, unbehaarten Leib Wind und Wetter hilflos ausgeliefert, käme in freier Wildbahn keiner weit.
Es sei denn, er hat einmal an einer archäotechnischen Aktion von Wulf Hein teilgenommen und weiß um die vielfältigen Möglichkeiten, die in einem einzigen Feuerstein schlummern. Richtig bearbeitet kann dieser sich nämlich in scharfe Klingen, in Faustkeile und Speerspitzen verwandeln.
Wulf Hein schlägt und schabt und tüftelt mit einem kleineren Stein an einem groben Block Flint herum, während er beschreibt, wie Archäotechniker heute, Neandertaler und Homo Sapiens damals ihre Werkzeuge herstellen und hergestellt haben. Dabei verändert sich nach und nach der unförmige Brocken in seinen Händen. Binnen wenigen Minuten ist aus dem Feuerstein ein schlanker, spitz zulaufender und glänzend schwarzer Gegenstand geworden. Staunend befühlen die Teilnehmer der archäotechnischen Aktion, Interessierte und Zuschauer im Münchner Kunstpavillon dessen glatte Oberfläche und scharfe Kanten.
Mit so einem Faustkeil, wie er hier von Wulf Hein live hergestellt worden ist, lässt sich so allerhand anstellen. Scharf genug um Fleisch vom Knochen zu trennen und Leder zu bearbeiten, sichert dieser Gegenstand im Kampf mit der Witterung und bei der Jagd auf Nahrung das Überleben in der unberührten Natur.
Auch aus den während der Bearbeitung abgesplitterten Kleinteilen des Feuersteins lässt sich aber noch etwas machen. Die Zähne putzen kann man sich damit oder Leder schneiden und zu schicken Lendenschurzen verarbeiten, nähen und aus Horn und Elfenbein kleine Figuren schnitzen. Zwar findet man Feuerstein nicht überall und sicher nicht vor der eigenen Haustür. Doch einmal irgendwo eingesammelt reicht ein großer Brocken aus, um mit Geduld und Spucke, zahlreichen gezielten Schlägen und etwas Einfühlungsvermögen genug Werkzeug für ein ganzes Jahr daraus zu gewinnen.
Was der einzelne Teilnehmer der archäotechnischen Aktion am Ende des Abends aus seinem Wissen um die Feuersteinbearbeitung nun macht, bleibt jedem selbst überlassen. Einige sprechen von Abenteuerurlaub in der Wildnis, andere basteln weiter an ihrer Theaterperformance und manche nehmen vielleicht einfach eine neue Perspektive auf das Verhältnis von Mensch und Natur mit nach Hause. Im Münchner Kunstpavillon auf jeden Fall lässt Wulf Hein - nicht ohne auch noch kurz die Kunst des Feuermachens zu demonstrieren- seine Zuschauer staunend zurück.

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